Ich meinte, jemand schenke mir Aufmerksamkeit

Obwohl Clarissa in einigermassen normalen Verhältnissen aufwuchs, entwickelten sich die Probleme in ihrem Leben zur Lawine. Kaufsucht, Geldprobleme, Essprobleme und noch viel mehr, zwangen sie schliesslich, den Tatsachen in die Augen zu blicken. Wie die Umkehr gelang, erzählt sie selber so:

„Aufgewachsen bin ich in einer weitgehend normalen Familie zusammen mit einer jüngeren Schwester. Die Schulzeit war eher schwierig, weil ich keine besonders gute Schülerin war. Als ich 12 war, liessen sich unsere Eltern scheiden. Wir Mädchen blieben bei der Mutter, doch manchmal lebten wir auch tageweise beim Vater.

Meine Essprobleme begannen mit 20, als ich mit einer Freundin zu «Weight Watchers» ging. Weil ich es nicht schaffte, meine Essgewohnheiten umzustellen, begann ich mit Erbrechen. Ich wollte schliesslich das erwartete Gewicht auf die Waage bringen!
Nach fünf Jahren auf meinem erlernten Beruf als Charcuterie-Verkäuferin hatte ich den Wunsch, noch eine Ausbildung als Krankenschwester zu machen. Verlangt wurde von mir noch ein Welschlandjahr und ein Jahr Vorschule für Pflegeberufe zu absolvieren. Ich erfüllte diese Bedingungen und nebenbei arbeitete ich an den Wochenenden und nachts, um Geld zu verdienen. Nach der Ausbildung arbeitete ich 12 Jahre als Krankenschwerster. Meine Essprobleme begleiteten mich. Doch ich nahm nie ab, denn ich war nicht im eigentlichen Sinn magersüchtig, aber ich hatte klar ein Essproblem. Es war mehr eine Beschäftigung, weil ich allein war: Kochen, Essen, Erbrechen – ein ungesunder Kreislauf, der meinen inneren Mangel auszufüllen schien. Weil mir das Erbrechen schwer fiel, begann ich im Spital Medikamente zu stehlen, von denen ich wusste, dass mir davon übel wird.

Jemand meint es gut mit mir

Schon immer zerrann mir das Geld zwischen den Fingern. Auch steckte die Sammlerin in mir und zwar so stark, dass es Suchtcharakter annahm. Ich kaufte unglaublich viele Bücher, Bildbände, CDs, Filme und Starmaterial. Und ich wurde zur Autogrammjägerin. Ich kaufte über Prominente alles, was ich ergattern konnte. Auf eBay gibt es einen regelrechten Markt für solche Jäger und Sammler. Manche Autogramme waren vermutlich nicht einmal echt. Jeden Schnipsel mit Infos über „meine“ Prominenten – seien es Fotos, Zeitungausschnitte, Magazine mit Berichten, Autogramme oder rare CDs – ergatterte ich. Ich kaufte sie teilweise mehrfach ein und zahlte dafür fast jeden Preis. Ich füllte Ordner und Bananenschachteln und verlor völlig den Überblick. Zum Ordnen oder gar Weiterverkaufen fehlten mir die Zeit und die nötige Disziplin, obwohl ich in meiner ganzen Freizeit damit beschäftigt war. Ich kam mit Verarbeiten nicht mehr nach. In einer Scheune stapelten sich meine Schätze. Das Zeug kam teilweise von Amerika, weshalb noch hohe Portokosten dazu kamen. Ich verlor völlig die Kontrolle über meine Kreditkarten-Abbuchungen. Rechnungen liess ich liegen, es folgten Mahnungen und Betreibungen – ja, ich nahm sogar mehrmals einen Kredit auf, um all das zu finanzieren. Täglich Briefe und Pakete zu bekommen, gab mir das Gefühl, jemand schenke mir Aufmerksamkeit, jemand schicke mir Post und meine es gut mit mir.

Abschied in der Kehrichtverbrennung

Im Frühling 2008 wurde ich wegen dem Medikamentenklau gestellt und bekam die Kündigung. Ich musste einige Male zur Psychiaterin. Mit ihr kam ich zum Schluss, dass ich eine Therapie machen sollte. Wir entschieden uns für den Quellenhof. Für mich war es gut, in eine christliche Institution zu gehen, denn ich hatte eigentlich schon immer eine Beziehung zu Gott. Im Quellenhof erwirkte man für mich eine IV-Rente. Nach intensiven Gesprächen mit meiner Bezugsperson kam ich selber an den Punkt, wo ich einen klaren Strich unter meine Vergangenheit ziehen wollte. Das war ein grosser Moment, als ich bereit war, meine umfangreichen Sammlungen in der Kehrichtverbrennungsanlage zu entsorgen!
Die Therapie im Quellenhof war eine sehr gute Zeit. Schritt für Schritt bewegte ich mich zurück in ein normales Leben. Nachdem ich eine schöne kleine Dachwohnung gefunden hatte, konnte ich die Quellenhof-Stiftung verlassen. Heute arbeite ich in einem Heilsarmeewohnheim in der Betreuung und im Hausdienst. Viele der Bewohner sind bedürftig und arm. Ich liebe diese Menschen und arbeite gerne mit ihnen.
Ich bin dankbar für die Entwicklung, die ich in den letzten Jahren gemacht habe. Ich brauche keine IV-Rente mehr und kann meinen Lebensunterhalt wieder selber verdienen. Meine Süchte gehören der Vergangenheit an. Ich weiss jetzt auch, was mir hilft und gut tut: Ich habe einen Freundeskreis, ich liebe das Fotografieren in der Natur und das kreative Werken. Meine Ferientage verbringe ich im Ländli, einem christlichen Ferienhaus in der Innerschweiz. Das Ländli ist meine Insel.“