Ich war sehr schlank, doch ich sah überall Fett

Sarahs Leben verlief wie eine Achterbahn. Süchtig nach Anerkennung und Liebe, unverstanden, gemobbt, gedemütigt und zerbrochen. Erst mit 27 bekam ihr Anderssein einen Namen: Borderline.

Mit drei Jahren wurde die verträumte Sarah sehr still: „Damals ist irgendetwas mit mir passiert, ich weiss nicht genau was. Vermutlich war es ein sexueller Übergriff.“ Von da an schlug sie alle Männer, sogar ihren Vater, den sie sehr liebte und der ihre Bezugsperson war. Ihr Verhalten war so auffällig, dass man eine Sonderschule in Erwägung zog. Die Eltern setzten sich aber für ihr Kind ein, sodass sie normal eingeschult wurde. Früh wurde der Schulpsychologe eingeschaltet, denn Sarah war anders. Dies merkten auch die Mitschüler, was Mobbing zur Folge hatte. Sarah redete fast nichts, hatte keine Freundinnen und sie lernte auch nichts. Trotzdem schaffte sie es irgendwie durch die Schulzeit.
In der Pubertät war sie nach aussen immer noch das stille Mauerblümchen, doch daheim tobte ein Machtkampf. Sie akzeptierte die Mutter nicht, respektierte nur den Vater. Zudem war Sarah äusserst reizbar und konnte völlig ausrasten. In dieser Zeit begann sie, sich die Armen zu ritzen. Ihre Eltern waren total überfordert mit ihr. Sie erinnert sich an die Zeit in der Handelsschule: „Ich war sehr schlank, doch wenn ich mich anschaute, sah ich überall Fett. Plötzlich fingen dann diese Essprobleme an.“

Er hätte alles für mich getan

Sarah lernte einen Mann kennen, zu dem sie wirkliche Zuneigung empfand. Sie zog zu ihm, weil er ihr Trost gab. „Ich hatte grosse Ängste, ihn wieder zu verlieren. Deshalb willigte ich noch so gerne in eine Heirat ein. Doch ich stand an meinem Hochzeitstag wie neben mir und die extremen Verlustängste waren voll präsent.“ Sarah war damals 20 Jahre alt, ihr Mann 25. Bald merkten die beiden aber, dass ihre Interessen nicht übereinstimmten. Sarah hatte sich extrem gewandelt von introvertiert zu extrovertiert und unternehmungslustig. Er war eher häuslich. „Trotz meinen starken Stimmungsschwankungen war ich für ihn die Traumfrau. Er übernahm alles und liebte mich wirklich. Aber unter seinen Fussballkollegen war ich als „die Hexe“ bekannt, weil ich so nervig sein konnte und ihn total manipulierte. Er hingegen hätte alles für mich getan.“

Im Konsumrausch

Mit 24 war Sarah geschieden. Sie arbeitete in einer Diskothek und eignete sich einen total anderen Lebensstil an. Um organisiert und konzentriert arbeiten zu können, begann sie Kokain zu schnupfen. Sie legte grossen Wert auf ihr Äusseres, weil das ihren Selbstwert steigerte. „Ich war manisch und kaufsüchtig. Es kamen haufenweise Rechnungen, Mahnungen, eingeschriebene Briefe und Betreibungen. Ich hatte panische Angst, meine Post zu öffnen. Schliesslich machte mir einer ein Angebot, wie ich aus der Schuldenfalle kommen könne: Geld für Sex. Ich bekam eine schöne Summe, wenn einer mit mir eine Stunde lang machen konnte, was er wollte. Das waren Missbrauchserfahrungen vom Gröbsten. Wenn ich mich weigern wollte, drohten sie mir, meiner Familie etwas anzutun.
Dann hatte ich einen psychischen Zusammenbruch wegen all dieser Geschichten. Ein Psychiater lieferte mich notfallmässig in eine Klinik ein. Ich war 27. Die Diagnose lautete: Borderline. Endlich hatte mein Anderssein einen Namen.“
In der psychiatrischen Klinik lernte sie eine Frau kennen, mit der sie seither freundschaftlich verbunden ist. „Ich wusste anfänglich nicht, dass sie gläubig ist, doch an ihrer Hochzeit lernte ich Christen kennen, die mich sehr beeindruckten. Seither gehe ich in deren Kirche und ich kann aus dem Glauben dieselbe Kraft schöpfen, die ich bei meiner Freundin so bewunderte,“ erzählt Sarah.

Endlich eine Perspektive

Seit Frühling 2014 arbeitet Sarah an einem geschützten Arbeitsplatz im Nähatelier der Quellenhof-Stiftung. „Ich blühe hier richtig auf und ich kann mich wieder freuen. Hier werde ich gefördert und kann ohne Druck arbeiten. Meine Ressourcen werden gestärkt und ich fühle mich wie in einer Familie. Jeder akzeptiert den anderen, wie er ist.
Neuerdings habe ich auch eine Perspektive: Ich stehe mitten in einer Peer-Ausbildung für psychiatrie-erfahrene Menschen. Das Ziel dieser Ausbildung: Man will geeignete, betroffene Menschen in die bestehende Versorgung einbeziehen, damit dieses erweiterte Verständnis anderen psychisch kranken Menschen hilft. Mein Wunsch ist, dazu beizutragen, dass psychische Erkrankungen kein Tabu mehr sind.